Jonathan Haidt
Generation Angst
Verlag: Rowohlt Buchverlag
Preis: 26,00€
ISBN: 978-3-498-02836-7
Erwachsene Sachliteratur
Dieses Buch wollte ich unbedingt lesen, weil ich sowohl bei meinen Kindern als auch dem Rest der Familie sehe, wie sehr man im Handy und besonders in Social Media versinkt. Das Familienleben wird hartnäckig von Diskussionen über zu häufige Nutzung aller Arten von elektronischen Medien bestimmt. Von dem Buch habe ich mir Antworten und Lösungsvorschläge erhofft.
J. Haidt sieht in seinen aufgeführten Statistiken einen fundamentalen Umbruch seit der Einführung der Smartphones inkl. Social Media-Anwendungen im Gegensatz zu einfachen Handys, mit denen man nur anrufen bzw. SMS versenden kann. Haidt kommt zu der Annahme, dass es zu einer großen Neuverdrahtung (dauerhaften Veränderung des Gehirns) und einer smartphonebasierten Kindheit bei der Gen Z kam. Somit stürzten die Kinder und Jugendlichen vermehrt in Depressionen und sie neigten häufiger zu Selbstverletzung und Suizid. Bei älteren Personen, die eine Kindheit ohne Smartphones erleben durften, sei diese Veränderung nicht erkennbar. Er erörtert diverse Übel, die diese junge Generation plagen: soziale Deprivation (Zustand der Entbehrung, des Entzuges, des Verlustes oder der Isolation von etwas Vertrautem), Schlafmangel, Fragmentierung der Aufmerksamkeit, Abhängigkeit.
Haidt schlägt einige Veränderungen im gesellschaftlichen Miteinander vor, die sich besonders auf den amerkikanischen Raum beziehen, aber teilweise auch in Europa umsetzbar wären:
- Kein Smartphone vor der Highschool (ca. 14 Jahre)
- Keine sozialen Medien vor einem Alter von sechzehn Jahren
- Smartphonefreie Schulen
- Viel mehr unüberwachtes Spiel und Unabhängigkeit in der Kindheit
Im ersten Moment möchte man Haidt sofort in allem zustimmen. Und bekommt es sofort mit Zweifeln zu tun, ob die anderen Eltern mitspielen würden. Wenn man heute Grundschulen anschaut, haben unzählige Kinder entweder ein Smartphone oder eine Smartwatch dabei. Die Eltern wollen ja schließlich immer wissen, wo ihr Kind ist. Zur Verteidigung wird angeführt, dass ihr Kind sie so im Notfall immer kontaktieren könnte. Im Notfall ruft aber die Schule die Eltern an und informiert sie.
In Amerika scheint zusätzlich das Problem zu bestehen, dass freispielende Kinder auf der Straße in manchen Gegenden gleich als Kindesvernachlässigung angesehen und zur Anzeige gebracht werden. Soweit sind wir in Deutschland ja zum Glück nicht. Und doch sind hier die morgendlichen Staus vor der Schule, die ständige Begleitung zu allen Freizeitterminen etc. auch hier Gang und Gäbe. Kinder gehen nur noch selten alleine zum nächsten Nachbarskind, wenn auf dem Weg eine größere Straße überquert werden muss. Erinnern Sie sich an ihre Kindheit, in der Sie mit einer Gruppe Gleichaltriger solange umherstreiften, bis es dunkel wurde? Hatten Sie in der Gruppe eine erwachsene Person oder ein Telefon dabei? Hat Sie jemand mit dem Auto zu Sport und Spiel gefahren und wieder abgeholt? Wie wäre es, wenn wir unseren Kindern diese Freiheit wieder zugestehen würden? Ja, die Straßen sind unsicher, besonders für fahrradfahrende Personen. Aber wäre es vielleicht ein guter Ansatz, die Straßen sicherer für Fußgänger und Fahrradfahrerinnen zu machen?
Zusätzlich zu meiner grundsätzlichen Zustimmung muss ich noch Kritik loswerden, die sich nach meiner Beschäftigung mit dem Thema entwickelt hat. Es gibt einige renommierte Wissenschaftler*innen, die die Arbeitsweise und Aussagen von Haidt scharf kritisieren. So macht z.B. Psychologieprofessorin Candice L. Odgers in der Fachzeitschrift „Nature“ deutlich, dass es keine eindeutigen Belege für einen kausalen Zusammenhang zwischen Bildschirmnutzung und psychischer Gesundheit gibt*. Ebenso widersprechen Forschende der Universität Würzburg der Aussage von Haidt.** Die Kritiker führen u.a. an, dass die vielen gleichzeitigen Probleme auf der Welt (Kriege, Klimakrise, Corona-Pandemie, politische Polarisierung etc.) zu den vermehrten Depressionen führen und nicht die Nutzung der Smarthpones oder Social Media. Und dass wir nun endlich psychische Erkrankungen bewusster wahrnehmen und sie nicht in Abrede stellen. Auch zeigen viele Studien, dass Kinder und Jugendliche soziale Medien nutzen, um Freundschaften mit Gleichaltrigen pflegen zu können. Gleichzeitig verbinden sich viele Personen über Social Media, um konkrete Probleme gemeinsam anzugehen. Was Haidt auch nicht untersucht: was, wieviel, mit wem und wie lange ein Kind am elektronischen Gerät nutzt und was es sonst in seiner Freizeit tut.
Die Probleme, die Social Media schafft, sind keinesfalls kleinzureden: Cybermobbing, Hass, Hetze – doch auch in der realen Welt haben wir damit zu kämpfen.
*https://www.platformer.news/anxious-generation-jonathan-haidt-debate-critique/
**https://www.uni-wuerzburg.de/aktuelles/pressemitteilungen